Requiem Londinium
Von der Renaissance bis heute ist das Musikgenre des Requiems um eine Vielzahl von Formen, Besetzungen, kompositorischen Sprachen und Bedeutungen reicher geworden.
Giovanni Pierluigi da Palestrina führt die Missa pro defunctis im 16. Jahrhundert à cappella auf und Hector Berlioz sieht dafür 250 Jahre später 440 Musiker:innen und Sänger:innen vor. In der Zwischenzeit komponiert Wolfgang Amadeus Mozart seine Version im Delirium auf dem Sterbebett. Die Liste ist endlos und endet auch angesichts der Weltkriege nicht. Benjamin Britten komponiert sein War Requiem und setzt dafür deutsche, russische, amerikanische und englische Sänger:innen ein. 1983 veröffentlichen Pink Floyd das Album A Requiem for the Postwar Dream und 2006 komponiert die französische Komponistin Chrystel Marchand das Requiem für einen Deportierten. Sogar Stanley Kubrick übernimmt in 2001: Odyssee im Weltraum das Genre in der Version von György.
Das Requiem ist demnach ein nicht wegzudenkender Bestandteil der westlichen Kunstmusik. Das moderne Requiem von Lee Schornoz (*1969) bricht mit den Dogmen. Dieses Werk entstand während seines Aufenthalts in London im Jahr 2016 und Lee Schornoz hat auch den Text aus der Totenmesse und der Offenbarung des Johannes darin überarbeitet. Die elektronische Version wurde in seinem Studio mit Debbie Miller, Guido Philipona, Ida Elena De Razza und Nikolina Pinko produziert, Manfred Jungo hat die Live-Version entwickelt und arrangiert und Stéphane Cosandey überarbeitete die Chorstimmen.
Das "Requiem Londinium" entstaubt die Tradition und verleiht ihr so eine weltliche Note. Dies bringt bereits die Besetzung zum Ausdruck: ein verzweifelter Kantor, eine Sopranistin, ein gemischter Chor der Verdammten und ein Symphonieorchester, umgeben von verstimmt klingenden No-Wave-Gitarren, tranceartigen Percussion, Glocken und einer brüllenden Orgel. Es ist eine Verschmelzung verschiedener Spielweisen und musikalischer Sprachen; von Tonalität bis Atonalität, bis hin zu modaler Musik, Collagen und experimenteller Elektroakustik. Das Ergebnis überrascht, bezaubert und verstört.
Im Introitus scheinen Schornoz' Glocken diejenigen von Brittens War Requiem zu zitieren. Aber anstelle des betenden Chors der Gläubigen steigen Schornoz' Stimmen aus dem Grab und scheinen sich im Regen durch den Schlamm zu schleppen. Die makabren Akkorde der Orgel sind für das Publikum teilweise schwer zu ertragen. Die Atmosphäre bleibt auch im instrumentalen Intermezzo The Balance of Twilight düster und klärt sich erst am Ende durch die glitzernden Klänge der Harfe und des Glockenspiels auf.
«Gloria in excelsis Deo» verkündet der Kantor, begleitet durch die Streicher und Posaunen. Nun setzen im Graduale die Frauenstimmen und die Sopranistin ein. Der Kantor erzählt uns alsdann von der Ankunft der Ritter der Apokalypse und des Jüngsten Gerichts, während er in einer mittelalterlichen Bußprozession zu wandeln scheint.
Der Himmel verdunkelt sich erneut im Dies Irae, die Stimmen verlieren ihre Einheit und geraten aus dem Takt. Die pseudo-gregorianische Melodie eines Kindes steht im Mittelpunkt des Liber Scriptus, vertont aus dem Buch der Lebenden. Diese umschreibt die Reihen derer, die für das Paradies bestimmt sind. Im Recordare bitten zwei weitere Frauenstimmen Jesus, sie zu retten, begleitet von einem hartnäckigen und grotesken Motiv der Bläser:innen. Dann singt der Chor eine Strophe aus dem Dies Irae über die Flammen der Hölle, «Confutatis maledictis, flammis acribus addictis». Das Orchester beginnt ein Crescendo und die Gitarrenmelodien zerfallen. Im Lacrimosa breitet sich ein Teppich aus elektronischen Klängen, Echos und Geräuschen aus, um sich mit den Streichern und einer Trompete im Hintergrund zu vermischen. Schritte nähern sich... Wo sind wir? Auf der Erde, im Weltraum oder in einer anderen Dimension?
Die Reise der Seele geht weiter im Gospel Domine Iesu Christe und in Hostias et preces tibi bis hin zum Sanctus, in dem sich die tiefen Streicher in Achteln bewegen, während sich die Glissandi der Harfe und die Effekte des Synthesizers vervielfachen. Im Agnus Dei wechselt die Tonalität ins Dur, im Libera me röhrt die Orgel erneut gewaltig.
Schließlich ist der rohe, einstimmige Gesang im Lux aeterna sinnbildlich für die Prozession zum Friedhof. Der Tod ist in der Tat eine Reise ohne Wiederkehr. Das Orchester verstummt, eine Glocke erklingt. (Consuelo Salvadori - Übersetzt ins Deutsche von Patricia Jungo)
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Standing on the shoulders of giants, wer es wagt, sich einschreiben zu wollen in die Königsklasse des sakralen Komponierens: Was wäre dem Requiem noch hinzuzufügen, was nicht bereits gesagt wurde? Die Grössten haben sich daran versucht, und an ihnen wird gemessen – und wohl (aus den falschen Gründen) für zu leicht befunden werden, wer sich anschickt, dieses sakrosankte Monument in Angriff nehmen zu wollen. Da hilft nur ein radikaler Bruch mit der Form: Die Tradition gehört gehörig entstaubt durch Entweihung, das Ausruhen auf den Lorbeeren des Althergebrachten tüchtig durchgerüttelt – «in Asche aufgelöst», wie es in der Liturgie heisst. Pechschwarze Orchestrierungen zwischen Hochromantik und Atonalität, umrankt von dröhnenden No-Wave-Gitarren im Gleichschritt mit tranceartigen Perkussionspatterns – Bombast und gleichzeitige Negation desselben; mit einem vielstimmigen Chor der Verdammten, über der eine Sopranstimme thront wie der Endzeitrichter höchstselbst, besingen verzweifelt den Tod als fait accompli des Menschseins. «Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen.» Und alles wird umfasst und gebettet in das mächtige Rauschen der Orgel. Das hier ist die Liturgie des Untergangs, eine ungewöhnliche Hochzeit der Stile auf einer Totenmesse! Alles strömt zusammen, um sich unser individuelles Ende und unser kollektives Endenmüssen von der Seele – so es sie denn geben sollte – zu schreien. Tage des Zorns in einem abgewrackten Loch in London, umgemünzt in die produktive Schaffenskraft der urgewaltigen Auflehnung gegen die Absurdität des Daseins, dargebracht in der Verschränkung von Wohlklang und Dissonanz. Mal sehen, ob das ewige Licht – oder auch nur ein Fünkchen Hoffnung – irgendeine Ritze in diesen pechschwarzen Hallraum der Verzweiflung zu finden vermag… (Thomas Jenny)
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Das einstündige Werk stammt aus der Feder des in Bern lebenden und in Freiburg geborenen Musikers Lee Schornoz. Der Grundstein für Requiem Londinium legte Schornoz 2016 in London, Clapham Junction. Er komponierte arrangierte und produzierte das Album in einer elektronischen Version, das an der Premiere der Live-Version veröffentlicht wird. Manfred Jungo aus Freiburg hat Schornoz' Werk für die Live-Version kompositorisch weiterentwickelt und arrangiert. Die Chorpartituren wurden von Stéphane Cosandey überarbeitet.
Vor dem Pubikum aufgeführt wird die Totenmesse von Dirigent Frédéric Zosso und seinem Sinfonie-Orchester Ouroboros (Konzertmeisterin: Kristina Blaser) sowie Stéphane Cosandeys 30-köpfigem Vocal Ensemble TiramiSu. An Stelle eines Sängerknaben treten die drei jungen Mädchen Alessia Baeriswyl, Augustine Julmy und Elea Sauteur auf. Die Opernstimme wird von der gebürtigen Kroatin Nikolina Pinko getragen. Als Kantor figuriert Jean-Charles Gonzalez. Die Musik wird umrahmt von einer E-Band mit den bekannten Freiburger Gitarristen Julien Menth, Sandro Schmutz, Thomas Jenny, Christophe Egger, Joel Martinho und dem Schlagzeuger Adrian Mahler.
Mitwirkende
Lee Schornoz
Lee (Louis Pierre) Schornoz wurde 1969 in Freiburg in der Schweiz geboren. Er begann im Alter von 15 Jahren Musik zu machen. Seine Hauptmotivation dabei ist das Komponieren von Songs und Musikstücken. Zusammen mit seinem Bruder André besitzt er ein eigenes Tonstudio (Caliber Club 2.0), in dem er jede freie Minute damit verbringt, an neuen Songs zu arbeiten.
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Manfred Jungo
Als Freiburger Musikschaffender ist Manfred Jungo in vielen unterschiedlichen Bereichen tätig. Als klassisch ausgebildeter Saxophonist an der Hochschule der Künste in Bern ist er mit seinem Instrument zur Zeit vor allem in der experimentellen Musik und im Jazz unterwegs. Er durfte in den letzten Jahren viele Erfahrungen als Dirigent, Chorleiter, Komponist und Initiant von unzähligen musikalischen Projekten sammeln. Seine stilistische Offenheit machen ihn zu einem sehr agilen und dynamischen Musiker.
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Stéphane Cosandey
Stéphane Cosandey leitet den Chor TiramiSu seit 1995. Er nahm Unterricht am Konservatorium Freiburg – u.a. klassisches Klavier sowie Jazzklavier – und besitzt ein Lehrdiplom für Musik und Gesang an Orientierungsschulen und Schulen der Sekundarstufe II. Zudem arbeitet er seit 2009 als Musiklehrer an der OS Châtel-St-Denis. Cosandey zählt auf eine langjährige Erfahrung als Sänger in zahlreichen Stilrichtungen von Jazz, Musical bis (u.a. Gregorianische) Klassik sowie als Chorleiter und Arrangeur.
Frédéric Zosso
Frédéric Zosso ist ein Freiburger Musiker. Als Saxophonist hatte er Gelegenheit, als Solist in der Schweiz und im Ausland aufzutreten, insbesondere in China, wo er Solosaxophonist des Dunshan Symphonic Wind Orchestra und Professor am China Conservatory in Peking war. Heute widmet er sich fast ausschließlich dem Unterrichten seines Instruments am Konservatorium Freiburg, da er seit 2012 als Dirigent tätig ist und derzeit vier Ensembles leitet: La Cordiale de Neyruz, die Union Instrumentale de Fribourg, das Orchestre d'Harmonie Fribourgeois und das Ensemble Ouroboros.
Nikolina Pinko
Nikolina Pinko ist eine vielseitig interessierte Sopranistin. Nach ihrem Gesangsstudium an der Musikakademie Zagreb, einem Diplom in Philosophie und Religionswissenschaften an der Philosophischen Fakultät Zagreb und zahlreichen Ausbildungen/Meisterkursen im Ausland engagiert sie sich in der Oper, bei Konzerten und als Lehrtätigkeit. Sie hat Preise bei nationalen und internationalen Gesangswettbewerben gewonnen. Pinko hat viele Opernrollen in kroatischen Nationaltheatern und im Ausland. Als Solistin konzertiert sie mit dem Dubrovnik Symphony Orchestra, den Zagreb Philharmonic, dem Kroatischen Rundfunk- und Fernsehorchester, aber auch mit dem weltberühmten Berliner Konzerthausorchester, der Thüringischen Philharmonie, dem Philadelphia Symphony Orchestra (auf ihrer großen China-Tournee) und viele andere. Es ist ihr eine besondere Ehre, bei großen Spektakeln mit Werken wie Beethovens „Ode an die Freude“ als Teil der 9. Symphonie, Mendelssohns Oratorium „Elias“, Bruckners „Te Deum“, Mozarts „Krönungsmesse“ und „Requiem“ aufzutreten. Sie ist erfolgreich in der Aufführung moderner und experimenteller Musik und nimmt Uraufführungen zahlreicher Komponisten auf.
Ouroboros
Der Name des Ouroboros-Ensembles bezeichnet ein Symbol, das in vielen Kulturen vorkommt: die Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Sie steht für den Zyklus der Zeit und die Ewigkeit, für Wiedergeburt und Erneuerung, für Entwicklung und Rückkehr - ganz im Sinne eines Orchesters, das die Talente unserer Jugend fördern möchte, während es sich mit einer Besetzung weiterentwickelt, die sich bei jedem Projekt erneuert. Der Ouroboros steht auch für eine universelle Welt zwischen Tradition und Innovation: Für uns ist es die Welt der "gelehrten" Musik, die wir jedem zugänglich machen möchten. Ouroboros wurde 2018 von Studierenden der Musikwissenschaft an der Universität Freiburg gegründet. Das Gründungskomitee strebt an, ein originelles und wissenschaftlich informiertes Musikprogramm anzubieten, das der Entdeckung und Wiederentdeckung gewidmet ist.
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TiramiSu Vocal Ensemble
Das Vocal Ensemble TiramiSu besteht aus rund 30 Sänger:innen und interpretiert seit mehr als 30 Jahren rhythmisch interessante und harmonisch anspruchsvolle Arrangements. Wir fühlen uns vor allem in den Bereichen Jazz, Funk, Blues und Pop zu Hause. Seit 1995 ist die musikalische Richtung des Ensembles von der Vielseitigkeit seines Dirigenten Stéphane Cosandey geprägt.
Website
E-Band
v.l.n.r.: Christophe Egger (Los Bulls), Thomas Jenny (Overdrive Amp Explosion/The Burden Remains), Sandro Schmutz (Black Mount Rise), Julien Menth (Emerald, Graywolf, Dark Colony), Joel Marthinho (Los Bulls)
Jean-Charles Gonzalez
Der Gesang im Allgemeinen sowie insbesondere der liturgische Gesang nehmen in meinem Leben einen wichtigen Platz ein, ebenso wie die Liturgie und alles, was mit dem geistlichen Leben zusammenhängt. Als mehrsprachige Person mag ich sowohl die griechisch-lateinische Kultur, aber auch weiter entfernte Horizonte. Mit meinem Doppelabschluss in Theologie versuche ich mich im Alltag zwischen Schatten und Licht zu bewegen und lebe das „tradidi quod et accepi“, stets aber auf dem Weg „Ad Lucem“.
Sally Jo Rüedi
Sally Jo Rüedi wurde in England geboren und ist seit mehreren Jahren als Organistin an der Franziskanerkirche Solothurn, sowie bei den reformierten Kirchgemeinden Nidau, Oberwil bei Büren und Büren a. A tätig. Sie ist Initiantin von diversen stilübergreifenden Projekten, zum Beispiel mit dem Trio «Take Three», wo sie zusammen mit dem Jazz-Trompeter Daniel Woodtli und dem Perkussionisten Tobias Rüedi spielt. Sally Jo Rüedi ist auch als Komponistin tätig. Im Frühling dieses Jahres veröffentlichte sie eine CD ihrer eigenen Orgelwerken mit dem Titel «Herr der Winde», welche u.a. Musik für winddynamische Orgel enthält.
Website
Adrian Mahler
Perspective Shifts, Black Mount Rise, Zeno Tornado & The Ill Eagles u.a.
Album
Requiem Londinium
Lee Schornoz veröffentlicht am Freitag, den 13.Oktober 2023 sein drittes Soloalbum „Requiem Londinium (Electronic Version)“. Der in Freiburg geborene und in Bern lebende Musiker schrieb die Musik während seinem halbjährigen Aufenthalt in London 2016. Die Skizzen entstanden mittels experimentellen Loops und Klangcollagen. Schornoz‘ fügte fast bei allen Stücken fünf Spuren verstimmter oder veränderter Gitarrensounds hinzu, um eine düstere, diffuse Stimmung als Kontrast zu den Instrumenten- und Orchestersamples zu erhalten.
Nach vollständigem Aufbaustudium von Benjamin Britten’s War Requiem entschied er sich 2020 für seine Version Chor- und Operngesangs-Arrangements zu entwerfen. Diese produzierte er mit Debbie Miller, Guido Philipona, Ida Elena De Razza und der Sopranistin Nikolina Pinko im eigenen Studio. Bei weiteren Stücken fügte der Gitarrist ein Kammermusik-Ensemble (mit: Kristina Blaser - Violine; Pascal Schafer - Tuba; André Schornoz - Kontrabass; Simon Feyer - Fagott; Yves Schouwey - Glockenspiel) und den Kantor Jean-Charles Gonzalez hinzu. Gonzalez rezitiert Versionen in Latein aus der Totenmesse und Auszüge aus der Apokalypse des Johannes.
Aufnahmen, Komposition, Arrangements, Gitarren, Loops, Samples, Stimmen, Perkussion, Mix: Lee Schornoz, nicstage Mobile Device London und Bern; Caliber Club 2.0, Tentlingen
Mastering: Adi Flück, Centraldubs, Bern
Cover: Corinne Gadient, Bern
Grafik: Andrej Marffy, Bern/Tokyo
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